Dezember, die Zeit der kurzen (oft grauen) Tage und der langen Nächte, die einem schon auf’s Gemüt schlagen kann. Manche finden in diesen Tagen Trost in der Weihnachtsgeschichte von der Geburt eines Heilands, andere im Glühwein auf den allgegenwärtigen Weihnachtsmärkten. Was aber tun, wenn weder das eine, noch das andere hilft? Ich für meinen Teil habe mich einfach einmal der dystopischen Stimmung ergeben – und letztlich auch darin einen Motorradbezug gefunden:
Für Eric Arthur Blair sollte der Winter 1949/1950 der letzte sein. Nachdem er noch im Oktober – bereits auf dem Krankenbett – geheiratet hatte, starb er mit nur 46 Jahren am 21. Januar 1950 an einer Lungenblutung. Eric Arthur war zeit seines Lebens durch und durch Individualist, und schon in seiner Schulzeit am renommierten Eton College – finanziert durch ein Stipendium – litt er unter dem Snobismus seiner Lehrer und Mitschüler. Aufgrund seines außerordentlichen Verstandes war er trotzdem ein guter Schüler, konnte aber aufgrund der finanziellen Situation seiner Eltern nach seinem Schulabschluss nicht studieren. Stattdessen trat er in den Dienst der britischen Kolonial-Polizei in Burma ein und wählte dort, seinem Nonkonformismus treu bleibend, nicht die Pferde-, sondern die Motorradstaffel. Er fuhr mutmaßlich auf einer Henderson Streife, ging damit sogar angeblich auf Tigerjagd1). Nach fünf Jahren, 1927, quittierte er desillusioniert den Dienst, die Erfahrungen als Polizist einer Kolonialmacht verfestigten seine tiefe Abneigung gegenüber jeglicher Herrschaft und seine Liebe zur Freiheit, die sein gesamtes weiteres kurzes Leben sowie sein Werk durchziehen sollten. Zurück in England zog er sich 1933 eine Lungenentzündung zu, laut mancher Biographen wohl, weil er auch im kalten englischen Regen Motorrad fuhr. Die Krankheit, die ihn für den Rest seines Lebens nie mehr ganz loslassen sollte, hinderte ihn aber weder daran, freiwillig im spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen, noch daran, ein großartiges literarisches Œuvre zu verfassen. Wobei er allerdings zunächst nur mäßig erfolgreich war, erst 1944 erfolgte der Durchbruch mit einer Fabel zur russischen Revolution und ihrer darauffolgenden Pervertierung durch Stalin. Mit „Animal Farm“ wurde Eric Arthur Blair weltberühmt, allerdings nicht unter diesem Namen, sondern unter seinem Pseudonym: George Orwell.
1947 bezog Orwell dann ein einfaches Farmhaus auf der schottischen Hebriden-Insel Jura und begann, an seinem vermutlich größten Roman zu arbeiten. In den Schreibpausen war er regelmäßig auf der Insel unterwegs – mit einer alten 500er Rudge Withworth, die aber nur in der Hinsicht zuverlässig war, dass sie zuverlässig regelmäßig liegen blieb. Das Bild Orwells, mit ölverschmierter Kleidung neben seinem kaputten Motorrad auf Hilfe wartend, war in dieser Zeit wohl ein vertrauter Anblick für die Einwohner Juras. Die Blütezeit von Rudge war zu diesem Zeitpunkt aber auch schon lange vorüber, die Motorradproduktion war bereits 1940 eingestellt worden. Lange her die Zeiten, als man die Tourist Trophy (TT) auf der Isle of Man gewann (1914 z.B., oder auch 1929). Probleme mit der Zuverlässigkeit gab es aber schon in diesen glorreichen Zeiten: 1927 fielen alle drei gestarteten Rudge bei der TT aus, 1928 ließ ein defektes Pleuellager den Traum vom Sieg kurz vor dem Ziel laut vernehmlich platzen. Der deutsche Rennfahrer Hans Richnow wurde 1933 Deutscher Meister auf einer 350er Brumm-Rudge. Der Name hat aber nichts mit dem brummenden Motor zu tun, sondern mit Friedrich Brumm: Der Berliner Tuner importierte und modifizierte in den 30er Jahren erfolgreich Rudge-Motorräder nach Deutschland.
Zum Glück haben die regelmäßigen Pannen mit seiner Rudge Orwell aber nicht von der Fertigstellung seiner Dystopie „1984“ abgehalten – ohne Zweifel ein Meilenstein der Weltliteratur, eine eindringliche Warnung vor jeglicher Form von Totalitarismus und ein flammendes Plädoyer für die individuelle Freiheit des Einzelnen. Ich selbst habe mehrfach mit gelitten, wenn Winston Smith, die Hauptfigur des Buches, seinen beschwerlichen Weg beschreitet: Von den ersten Zweifeln an der Partei bis zur völligen Selbstaufgabe unter der Folter von O’Brien. Bei der ersten Lektüre als Pennäler z.B., oder auch im Titeljahr 1984 im Kino, als die großartige Verfilmung mit John Hurt und Richard Burton auf die Leinwand kam. Das Buch ist aktuell wie eh und je, und das Traurige 75 Jahre nach seinem Erscheinen (und fast 40 Jahre nach 1984): Es braucht für die Verwirklichung des „Big Brother“ gar keinen totalitären Staat (wie etwa in China, wo das flächendeckende Überwachungssystem geradezu die Perfektionierung von Orwells Horrorvorstellung darstellt). Auch das, was die Internetgiganten in westlichen, „freiheitlich-demokratischen“ Gesellschaften inzwischen an Daten über uns sammeln, lässt den „großen Bruder“ vermutlich vor Neid verblassen. Und wir Motorradfahrer, die wir ja gerne einmal als Klischee für den freiheitsliebenden Individualisten herhalten dürfen? Wir achten bei unseren Motorrädern neuerdings nicht mehr nur auf Motorkraft und Handling, sondern auch auf „Connectivity“, um mit dem Smartphone und der passenden App während der Fahrt alles an Daten aufzeichnen zu können, was während so einer Motorradtour so anfällt – von der gefahrenen Route über Brems- und Beschleunigungswerte bis zur maximalen Schräglage. Hinterher teilen wir dann freudig und freiwillig diese Daten im Internet mit der ganzen schönen neuen Welt – aber das ist dann schon der Titel einer anderen berühmten Dystopie…
1) https://thevintagent.com/2017/07/08/george-orwells-motorcycles/
Was mich fasziniert:
Bei Allem, was er vorausgeahnt hat,
bei Allem, was er erst mental und dann auch körperlich gelitten hat.
Sein Bild strahlt für mich einen ungebrochenen, optimistischen, postitiv hintergründig fröhlichen Charakter aus.
Für mich sagt dieses Bild: lebensbejahend sein.
Nicht Durchhalten, sondern versuchen ein wenig über den Dingen zu stehen und listig die eigene (kleine) Individualität behalten und, wenn nötig, verteidigen.
Kann sein, dass ich da zu viel reininterpretiere – aber, so sehe ich’s halt.
Im Übrigen wieder mal 1.000 Dank für die wunderbare Art, wie Du Unwissenden wie mir, geschichtliches nahebringst.
Maxmoto
Lieber Maxmoto,
ich bin ja auch kein Wissender (weiß also, mit Sokrates, dass ich nichts weiß), und generell hat wohl Newton recht: Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean! Ich habe aber trotzdem Spaß daran, den Ozean meines Unwissens immer wieder, Tropfen für Tropfen, weiter trocken zu legen – um die Unmöglichkit dieses Unterfangens wohl wissend. Und manchmal kommt dabei eben unnützes Motorrad-Wissen heraus. Umso schöner, wenn ich anderen damit eine kleine Freude bereiten kann!
Vielen Dank also für Deinen Kommentar und beste Grüße,
Achim