Ende 2023 hat sich das Bundesverfassungsgericht einmal mehr als Spielverderber für die Politik erwiesen, und plötzlich fehlen dem Finanzminister 60 Mrd. €. Nun wird wieder heftig gestritten um die richtige Wirtschaftspolitik, um Staatshaushalt und Schuldenbremse – zwischen Regierung und Opposition sowieso, aber auch innerhalb der Ampel-Koalition. Was diese aktuellen Debatten um die Fiskalpolitik mit Motorrädern zu tun haben, davon handelt dieser dritte Teil des unnützen Motorrad-Wissens.
Ebenfalls Ende 2023 wurde „Krisenmodus“ zum Wort des Jahres erklärt, ein Blick in die europäische Geschichte zeigt indes, dass Krise hier eher der Normalfall denn die Ausnahme ist. Im Sommer 1914 z.B. fiel Europa nach dem Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajewo am 28.6. endgültig in einen Krisenmodus, und davon waren natürlich auch die Finanzmärkte betroffen. Der damalige britische Schatzkanzler, Lloyd George, brauchte in dieser unübersichtlichen Situation dringend den Rat von Sachverständigen mit Übersicht. Da entsann sich die britische Regierung eines ehemaligen Mitarbeiters des für Britisch-Indien zuständigen Ministeriums, dem „India Office“, der sich inzwischen durch diverse Publikationen einen Namen auch als Ökonom gemacht hatte. Der Hilferuf ereilte den Mann nur wenige Tage vor Ausbruch des ersten Weltkriegs in Cambridge, wo er zu dieser Zeit als Dozent am King’s College tätig war. Es heißt, der Experte habe sich sogleich auf die knapp 100 km lange Reise nach London begeben. Da keine Zeit war, auf den nächsten Zug zu warten, überredete er seinen Schwager, Archibald Vivian Hill, ihn mit dem Motorrad zu fahren. Und so kam es, dass John Maynard Keynes seine langen Beine in den Seitenwagen des Motorrads „faltete“ und sich auf eine „seltsame und wilde“ Fahrt begab, die den Lauf der Geschichte verändern sollte1). Es war jedenfalls ein wahrlich beachtliches Gespann, das da die Straße zwischen Cambridge und London unter die drei Räder nahm: Im Beiwagen der Mann, der sich später als der vielleicht größte Ökonom des 20. Jahrhunderts erweisen sollte, am Lenker der Gewinner des Nobelpreises für Medizin des Jahres 1922.
Während Hill aber trotz Nobelpreis nur einem kleinen Fachpublikum bekannt sein dürfte, hat Keynes große Berühmtheit erlangt – sein Name ist auch außerhalb ökonomischer Fachkreise weithin bekannt. Sein ökonomisches Werk hier darlegen oder angemessen würdigen zu wollen, wäre ein schier unmögliches Unterfangen. In aller Kürze nur so viel: Wie beim Motorradfahren, spielt auch in der Volkswirtschaftslehre das Gleichgewicht eine wesentliche Rolle. Die Ökonomen vor Keynes waren im Wesentlichen der Ansicht, dass eine Volkswirtschaft quasi automatisch zu einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht tendiert und dass es Ungleichgewichte und Arbeitslosigkeit allenfalls kurzfristig geben könne – langfristig erreiche man wieder das Gleichgewicht. Angesichts der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre war das eine wenig hilfreiche Aussage, und Keynes konterte mit seinen vermutlich berühmtesten Worten: „Langfristig sind wir alle tot!“. Keynes konstatierte, dass sich auch längerfristig ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht einstellen könne und sah die Ursache vor allem in fehlender Nachfrage. In einer solchen Situation müsse der Staat eingreifen und selbst Nachfrage generieren, notfalls auch schuldenfinanziert. Keynes sagte allerdings auch, dass nach Überwindung der Krise der Staatshaushalt wieder konsolidiert werden müsse. Wird letzteres versäumt und häufen sich Staatsschulden an, greift Kritikern zufolge die „Ricardianische Äquivalenz“: Da Schulden von heute Steuern von morgen sind, reagieren die privaten Nachfrager (Haushalte und Unternehmen) auf hohe Staatsverschuldung mit Zurückhaltung, schränken Konsum und Investitionen ein und die höhere staatliche Nachfrage wird konterkariert, die Wirkung der Fiskalpolitik verpufft. Dementsprechend wird also nun seit Keynes teils erbittert um die richtige Balance zwischen Staatsausgaben und Budgetdisziplin gestritten, so wie eben aktuell gerade in Deutschland.
Oder aber auch 2015, als im Januar, gut 100 Jahre nach Keynes` denkwürdiger Gespannfahrt von Cambridge nach London, ein anderer Volkswirt per Motorrad seiner Regierung zu Hilfe eilte, als Finanzminister sogar ihr Mitglied wurde: Der griechische Ökonom Yanis Varoufakis, auch einmal als „John Maynard Keynes mit einem Hauch von Karl Marx“ bezeichnet, tauchte auf dem Höhepunkt der griechischen Staatsschuldenkrise als vermeintlicher Retter des hellenischen Staates auf. Im Laufe seiner Karriere war Varoufakis auch als Dozent in Cambridge tätig – ganz wie sein großer Vordenker Keynes. Und da er schon zu dieser Zeit mit dem Motorrad unterwegs war, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch er die Strecke Cambridge – London mit dem Krad absolviert hat. Als griechischer Finanzminister bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, die beiden 7er BMW-Limousinen, die ihm vom Ministerium zur Verfügung gestellt wurden, zu verkaufen. Varoufakis fuhr stattdessen auf seiner 1300er Yamaha XJR von Termin zu Termin. Wie er später der Zeitschrift „Motorrad“ in einem Interview erzählte2), lieferte er sich dabei an jeder Ampel ein Rennen mit seinem Begleitschutz, ebenfalls auf Motorrädern unterwegs. Er gewann jedes Mal, wie er im Interview stolz betont. Den Wettstreit mit seinen europäischen Amtskollegen gewann er allerdings nicht, und auch seine Amtszeit als Finanzminister sollte eher ein Sprintrennen statt eines Langstrecken-Wettbewerbs bleiben: Nach nur einem halben Jahr im Amt erklärte er im Juli 2015 seinen Rücktritt – und floh anschließend vor einer drängenden Journalistenschar, natürlich auf seinem Motorrad!
1) Zachary D. Carter: The Price of Peace: Money, Democracy, and the Life of John Maynard Keynes, 2020.
2) https://www.motorradonline.de/szene-motorsport/interview-mit-yanis-varoufakis-athen-die-haerteste-fahrschule-der-welt/