Unnützes Motorrad-Wissen

Ganz im Sinne des Mottos dieses Blogs – Trivia und Varia – möchte ich hier in loser Folge Anekdoten präsentieren, die im weitesten Sinne etwas mit Motorrädern zu tun haben, deren Kenntnis aber letztlich vollständig entbehrlich ist. Es sei denn, man hat, wie ich, Freude an solch unnützem Wissen. Womit es doch einen Nutzen hätte, ergo gar nicht mehr unnütz wäre…Den Anfang macht eine kleine Geschichte darüber, was ein Zitat über Ökonomie mit einem legendären Motorrad zu tun hat.

Mein Benzingeld verdiene ich ja als Ökonom, genauer gesagt damit, dass ich Studenten der Wirtschaftswissenschaften zu erklären versuche, wie Wirtschaft funktioniert. Was nicht einfach ist, weil das tatsächlich niemand wirklich so genau weiß. Seit 30 Jahren präsentiere ich jedenfalls im Rahmen dieses Versuchs den Erstsemestern gleich zu Beginn der Einführungsvorlesung „VWL“ meine Lieblingsdefinition dieses Fachs: „Ökonomie ist die Kunst, das beste aus unserem Leben zu machen“. Sie stammt nicht von einem Ökonomen, sondern von einem großen Literaten, George Bernard Shaw. Eine schillernde Persönlichkeit, die einerseits ein grandioses Werk vorzuweisen hat, ausgezeichnet mit dem Literaturnobelpreis und mit einem Oscar. Andererseits ein Bewunderer Stalins und Befürworter der Eugenik. Es ist nicht an mir, hier eine Gesamtbeurteilung Shaws oder seines Werkes zu liefern, das überlasse ich gerne anderen, kompetenteren Autoren oder Biographen. Für mich interessant ist ein Aspekt in Shaws Leben, der weit weniger bekannt ist, von dem ich – zu meiner Überraschung – selbst erst lange nach Entdeckung des Ökonomie-Zitats Kenntnis erlangte (und der, nebenbei, auch im Wikipedia-Artikel über Shaw keine Erwähnung findet): Seine Begeisterung für – ja genau: Motorräder!

George Bernard Shaw, 1936

Michael Holroyd, einer der bekanntesten Biographen von George Bernard Shaw, beschreibt diese Begeisterung in seinem Buch „On Wheels“ wie folgt:

During the war, Shaw became a fiery motorcyclist, gingering up his two-stroke machine that would hurtle away, bucking him off sometimes and landing on top of him. He took hypothetical instruction from the village chemist at Ayot St. Lawrence on how to steer around corners, but could not bring himself to accept the theory that it was necessary to lean over at an angle while doing this“.

Dass ausgerechnet der Dorf-Apotheker zum Fahrlehrer wurde, liegt vermutlich daran, dass damals, in den Anfängen der Motorisierung, Benzin oft in den Apotheken verkauft wurde, und somit der Apotheker zugleich Tankwart und damit auch Experte für Motorfahrzeuge war. Bemerkenswert ist auch, dass „während des Krieges“ in diesem Fall den ersten Weltkrieg meint, und dass Shaw bei dessen Ausbruch immerhin bereits 58 Jahre alt war! Jedenfalls kommt an dieser Stelle in Shaws Leben ein anderer großer George ins Spiel: George Brough. Britischer Rennfahrer und Weltrekordhalter, vor allem aber Konstrukteur einer wahren Ikone des Motorradbaus: Der legendären Brough Superior. Gefertigt in einer kleinen Manufaktur in Nottingham gab es ab 1922 die SS 80, ab 1924 dann die SS 100. Anders, als heute bei vielen Motorradherstellern üblich, standen die Zahlen aber nicht für den Hubraum, sondern für die Geschwindigkeit: Die SS 80 stand für 80 mph (129 km/h) die SS 100 für 100 mph (161 km/h). Die Motorräder wurden mit einem Zertifikat ausgeliefert, das den Käufern die jeweilige Geschwindigkeit garantierte. Es heißt, dass niemand diese Garantie je in Anspruch nehmen musste: Alle ausgelieferten Maschinen erreichten das zugesicherte Tempo. Die Brough Superior gehörten damit zu den schnellsten Motorrädern ihrer Zeit. Gemessen am damaligen Straßenzustand einerseits und den Motorrad-Fahrwerken andererseits muss man wohl sagen: sie waren geradezu wahnsinnig schnell. Gleichzeitig galten sie aber auch als sehr zuverlässig und wurden auch als „Rolls Royce“ unter den Motorrädern bezeichnet.

Brough Superior, Wikimedia, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license

Einer der berühmtesten Besitzer von insgesamt sogar sieben Brough Superior war sicher T.E. Lawrence, besser bekannt als „Lawrence von Arabien“. Er war begeistert von diesen Maschinen, fuhr damit lange Touren (bis zu 500 Meilen am Tag, bei den damaligen Straßenverhältnissen eine mehr als beachtliche Leistung) und bedankte sich eigens mit einem persönlichen Brief bei George Brough für dessen Konstrukteursleistung. Weithin bekannt ist auch, dass Lawrence schließlich mit einer SS 100 im Mai 1935 tödlich verunglückte. Viel weniger bekannt ist dagegen, dass auch George Bernard Shaw insgesamt sechs Brough Superior sein Eigen nannte. Lawrence und Shaw waren befreundet, und der Name „Boanerges“, den Lawrence seinem Lieblingsmotorrad gab, ist auch der Name einer Figur aus einem von Shaws Theaterstücken. Ob da ein Zusammenhang besteht, ist aber selbst unter den Biographen strittig: Vermutlich wurden beide, Shaw und Lawrence, bei der Namensgebung durch das Neue Testament inspiriert: Dem griechischen Ursprung nach steht „Boanerges“ für „Geschrei“, und laut Markus-Evangelium bezeichnete Jesus die Apostel Jakobus d. Älteren und Johannes mit diesem Begriff als „Kinder des Donners“. Dass Lawrence seine Brough Superior so nannte, ist unmittelbar nachvollziehbar, und Shaw’s Figur ist eine „großmäulige“ Person, so dass der Name hier ebenfalls passt.

T.E. Lawrence auf seiner Brough Superior, Wikimedia, United States Public Domain File

Ebenfalls nicht bestätigt ist die Aussage Holroyds, wonach „Boanerges“ ein Geschenk von Shaw an Lawrence war. Andere Quellen berichten entweder, dass Lawrence alle seine Brough Superior selbst bezahlt hat, oder aber, dass pikanterweise nicht Shaw, sondern seine Frau Charlotte, die angeblich etwas in Lawrence verknallt war, ihm das Motorrad geschenkt hat. Shaw überlebte seinen Freund Lawrence jedenfalls um 15 Jahre, starb mit 94 Jahren im November 1950 ebenfalls an den Folgen eines Unfalls. Seine Motorräder hatten damit aber nichts zu tun: Nachdem Shaw sich an seinem Lebensabend vor allem seinem Garten gewidmet hatte, fiel er beim Beschneiden eines Baumes von der Leiter. Am Ende ist also Gartenarbeit womöglich genauso gefährlich wie Motorradfahren.

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